Der Tiger ist eine kraftvolle Großkatze, die bei der Jagd eine extreme Hartnäckigkeit an den Tag legt. Auch wenn ein Tiger angreift tut er dies mit all seiner Aggression und Kampfkraft. Die menschliche Spezies kann eine Menge von diesen wundervollen Großkatzen lernen.
Wer unter uns, der sich mit den klassischen Kampfkünsten beschäftigt, hat nicht davon gehört, dass die alten Meister die Charakteristika und Eigenschaften der Tiere nachahmten um ihre eigene Kampfkraft zu steigern?
In der Tat können Menschen durch das Studium des tierischen Verhaltens eine ganze Menge über Gewinnen und Kämpfen bei einer Auseinandersetzung lernen, aber mit allem gebührenden Respekt gegenüber den alten Meistern des klassischen Quan Fa muss man sich hier die Frage stellen, ob die Behauptung man könne die Waffen des jeweiligen Tieres und – wörtlich – „die Bewegungen des Tieres und seine Kampfesweise nachahmen“, nicht über das Ziel hinaus schießt.
Ich möchte mich hier nicht über Sinn und Unsinn von einzelnen Tierstilen wie z.B. Affen- oder Schlangenstil und ihren Wert in einem realen Kampf auslassen, aber ich denke, dass klassische und traditionelle Stile oftmals die realen Prinzipien übersehen, welche hinter den intuitiven Kampffähigkeiten stehen, die Mutter Natur ihren Beutejägern mitgegeben hat. Von diesen Prinzipien sollten wir lernen und wenn wir diesen Unsinn vergessen uns wie eine Gottesanbeterin, ein Kranich, ein Bär, ein Tiger oder was auch immer, zu bewegen oder zu kämpfen, sind dies sehr wertvolle und allgemeingültige Lektionen für uns.
Der Leopard ist eine furchterregende Raubkatze und wie alle Großkatzen greift er mit seinem gesamten Körpergewicht und 100%igem Krafteinsatz mit seinen Klauen und Zähnen an. Es sind eben diese zwei Waffen, die ihm die Natur gegeben hat. Ein Mensch kann schlecht effektiv mit seinen Klauen und Zähnen angreifen, was er jedoch sicherlich vom Leopard übernehmen kann, ist das Prinzip mit einer kleinen Waffenauswahl den Gegner pausenlos zu attackieren.
Was können wir also von den Tieren lernen und welchen Nutzen können wir aus ihrer Art zu kämpfen ziehen?
1. Tiere haben höchstens ein oder zwei natürliche Waffen
… und diese eine oder zwei scheinen ausreichend zu sein, wenn man beobachtet mit welcher Effizienz sie diese körpereigenen Werkzeuge einsetzen.
2. Tiere greifen an – sie „blocken“ nicht
Selbst eine Manguste, besser bekannt als Mungo, ist nicht defensiv im Kampf mit der Kobra, sondern dieses Tier verhindert die Angriffe der Schlange, indem es sie zuerst angreift.
3. Tiere hören nicht nach einer Bewegung auf
Der afrikanische Kaffernbüffel ist wohl das gefährlichste Tier, das es zu jagen gibt, aber nicht weil es den Jäger attackiert. Der Kaffernbüffel schlägt nur zurück wenn man ihn angreift! D.h. wenn man auf ihn schießt, dann sollte man ihn auch richtig treffen, ist dies nicht der Fall, dann macht der Büffel Jagd auf den Jäger. Und dieses Wesen ist wahrhaftig auf eine positive Art und Weise „rachsüchtig“. Es sind Fälle bekannt, dass Kaffernbüffel die Leichen von Großwildjägern verstümmelt haben, nachdem ein Schuss sie nur verwundete und sie erfolgreich „Jagd“ auf die Verursacher machten. Der Kaffernbüffel verfolgt seinen Aggressor und macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes dem Erdboden gleich!
Tiere sind immer nachhaltig und unnachgiebig in ihren Angriffen wenn sie in einen Kampf verwickelt sind. Ungeachtet ihrer Waffen, ihrer Stärke und ihrer speziellen Beutejägerfähigkeiten, ist es dieses „dranbleiben“, dieses „immerweiter fortfahrende Angreifen“ ein nützliches Prinzip des Kampfes das jeder Student der Selbstverteidigung (self-defense; besser self-offense) befolgen sollte.
4. Tiere ignorieren Verletzungen während des Kampfes. Sie setzen ihre Angriffe unvermindert fort
Menschen die sich mit Selbstverteidigung und Nahkampftraining befassen wollen, müssen zuallererst eine einfache aber unschöne Tatsache akzeptieren: Man gerät nicht in eine gefährliche Auseinandersetzung und geht unverletzt aus ihr hervor! Gerät man in einen Kampf ist die Chance, dass man verletzt wird recht hoch!
Wenn jemand sehr gut ist, gute Kampffähigkeiten besitzt und wenn er viel Glück hat, wird er die Situation kontrollieren können, aber es ist lächerlich zu glauben, selbst wenn man ein Experte in Selbstverteidigungstechniken wäre, würde diese Tatsache allein garantieren, dass man Verletzungen immer vermeiden könnte. Dies ist ein Mythos, den niemand glauben sollte und den auch kein guter Lehrer vermitteln darf.
5. Tiere nutzen ihre ureigenen Waffen auf ihre Art und Weise, ungeachtet dessen was das andere Tier, mit dem sie in den Kampf verwickelt sind, seinerseits an Waffen und Techniken benutzt
Wenn eine Raubkatze mit einer Boa Constrictor kämpft, benutzt die Katze ihre Zähne und Klauen, während die Boa versuchen wird ihr Opfer zu umwickeln und zu erdrücken. Keines der beiden Tiere würde in diesem Kampf versuchen „seinen eigenen Stil zu verändern“. Vielmehr hat die Natur diese Wesen dahin gehend programmiert die ihnen von der Natur gegebenen Waffen einzusetzen, ungeachtet der misslichen Umstände in denen sie sich gerade befinden.
Die Menschen täten gut das zu verinnerlichen, was die Natur ihren Kreaturen „einprogrammiert“ hat. Das wäre: Meistere Deine Waffen und meistere Dich Selbst und nutze Deine Eigenschaften, Fähigkeiten und Talente – ungeachtet Deines Stils und dem deines Gegners.
6. Tiere „sparren“ nur beim Spiel
Beobachte Raubkatzen in Zoos oder Tierparks wie sie miteinander spielen und dieses Spiel wie ein „Sparring“ zweier Boxer anmutet. Die (für eine Raubkatze) relativ sanften Schläge sind darauf ausgerichtet zu spielen – nicht zu verletzen oder gar zu töten. Beobachten wir einen kräftigen Hund beim Spiel mit seinem Besitzer, er tänzelt herum, lässt seinen Körper fallen, springt auf sein Ziel zu, springt zurück und nimmt Arm oder Hand seines Herrchens sanft ins Maul, ohne jedoch jemals richtig zuzubeißen. Beobachte die gleichen Tiere in einer ernsthaften Kampfsituation und diese Tiere springen mit aller Kraft und Geschwindigkeit und sie erzeugen dabei in kürzester Zeit eine hohe Menge an Aufprallenergie. Ein 45 Kg schwerer Hund kann einen Mann von 120 Kg von den Beinen holen, weil sein Angriff schnell, kraftvoll, engagiert und heftig ist. Eine 45 Kg schwere Person könnte dasselbe tun, wenn sie dieselben Prinzipien wie der Hund sie nutzt, unter Hinzufügung von Handkantenschlägen, Handballenstössen zum Kinn, Ellenbogenschlägen, Augenattacken und Lowkicks, anwenden würde! Halten wir fest, dass diese Person darüber hinaus mehr Intellekt und eine größere Anzahl an natürlichen Waffen als der Hund besitzt.
Ein „Helden“-Tier!
Der Kaffernbüffel wurde schon erwähnt, er ist ein bewundernswertes Geschöpf, obwohl er ein ausgezeichneter Killer ist, sucht er nicht nach Ärger. Er würde Dich nicht beachten, wenn Du an ihm vorbei gehst, selbst wenn Du ihn fotografieren würdest. Doch schießt Du auf ihn und triffst ihn nicht tödlich dann wird er alles tun was nötig ist um Dich zu töten. Eine sehr akzeptable Einstellung.
Wenn man als Schule für Selbstverteidigung nach einem Tier suchen würde, was ins „Schulemblem“ passt, dann wäre der Kaffernbüffel wohl die richtige Wahl.
Man wird niemals, auch im Ansatz nicht, die Fähigkeiten des Kaffernbüffels erreichen, aber mit einer ernsthaften Einstellung zum Training und entsprechender Entwicklung der eigenen körperlichen Fähigkeiten kann und sollte man die Philosophie dieses Tieres kultivieren, die da lautet:
Lass mich in Ruhe, respektiere mich und ich werde Dich in Ruhe lassen und respektieren; aber wenn Du mich überfällst oder mir zu nahe kommst dann pass auf! Wenn ich muss, werde ich mich bis zum Äußersten wehren mit allem was ich habe.
Es ist sinnlos ein Tier zu imitieren wie ein Pantomime, die bloße Nachahmung von Bewegung führt zu nichts. Mein Quan Fa Lehrer sagte zu mir: „Du musst Dich nicht wie das Tier bewegen, Du musst wie das Tier sein:“ – Ich glaube heute verstehe ich was er damals damit gemeint hat.
Lerne von den Tieren, aber lerne nur was Du auch wirklich gebrauchen kannst.
verfasst von Jörg Kuschel, Quellenangaben:
seattlecombatives.com
Artikel aus September 2009